Freitag, 23. Oktober 2020

THERE'S MORE TO LIFE THAN...

...Struktur. Denn gerade diese ist, wie die jüngsten Erfahrungen mit dem „Ich wäre gern Orkan geworden“-Wintersturm Xaver zeigen, in heutigen Gesellschaften auch immer höchst anfällig für irrationale Störungen – besonders für haus-, mensch- und mediengemachte. Früher war weniger Panik und in diesem wohlmeinenden Sinne dürfen alle musikalischen Strukturtraditionalisten bis zum letzten Teil dieser Kolumne getrost auf Durchzug schalten.

Den Anfang machen die drei Experimentalmusiker C. Spencer Yeh, Okkyung Lee und Lasse Marhaug mit „Wake Up Awesome“ auf dem in Brooklyn, New York beheimateten Label Software Recording Co. und liefern mit diesem Album ein 40-minütiges Manifest in Sachen Industrial Noize meets FreeJazz. Mäandernd zwischen tatsächlicher Echtzeitimprovisation und nachbearbeiteteten Studioaufnahmen erinnert „Wake Up Awesome“ in kurzen Phasen an die verglitchten Variationen der legendären „Ekkehard Ehlers plays Albert Ayler“-LP auf Staubgold, häufig an hochdigitalen Lärm und hat in ruhigeren Passagen wie „Mission: Nothing“ sogar rudimentär ambiente Züge, die natürlich umgehend durch allerhand mahlende Distortion und lavaartig gewitternde White Noise-Ausbrüche ad absurdum geführt werden. Heftiger Stoff für klirrend kalte Winternächte.

Gesitteter, wenn auch nicht weniger fern der Traditionsstrukur geht es auf den beiden aktuellen 3“ CD-Veröffentlichungen des Electroton-Labels zu. Beide auf jeweils 100 Stück limitiert, serviert Marek Slipek a.k.a. Cernlab mit seinem Viertracker „Atomherz“ als Katalognummer 014 des Labels hochgradig digitalisierten ElectroPhonk mit klar definierten Spielereien im Stereofeld, die auch fortgeschrittene Dancefloorcrowds dank ihrer sci-fi'esquen Bedrohlichkeit und zuweilen schizophren wirkender Klänge in den wohlverdienten Wahnsinn zu treiben verstehen, während ujif_notfound mit „Aneuch“ in drei Versionen dem zu Unrecht aus dem musikalischen Fokus dieser Zeit gerückten Clicks'n'Cuts-Genre zu neuer Aufmerksamkeit verhilft. Dabei fusioniert er in Perfektion die präzisen Kleinstgeräusche digitaler Kommunikation und klickernder Festplatten mit fliessend weichem Ambient, der in dieser ausgereiften Form leider viel zu selten den Weg auf physische Tonträger findet – erst echt nicht auf so ansprechend minimalistisch geboxte, wie sie bei Electroton zum ästhetischen Standard gehören.

Nach diesem kurzen Ausflug ins Land der musikalischen Experimente und der aktuellen CD-Veröffentlichungen auf diesem Gebiet, geht es mit dem Re-Release des Monats nicht nur zurück zum schwarzen Vinylgold sondern auch ins Ethiopien der 1970er-Jahre, in dem Alemayehu Eshete sich als eine der grossen Stimmen einer blühenden Jazz, Funk und Soul-Szene hervortat. Schon in 2007 versammelte das Label L'Arome Productions zehn seiner in Zusammenarbeit mit Girma Beyene oder Lemma Demmissew enstandenen Songs unter dem Titel „Ethiopian Urban Modern Music Vol.2“ im Rahmen der „Ethiopiques“-Serie, die nun dankenswerterweise wieder auf Vinyl erhältlich ist und nicht nur exzessiven Cratediggern und Samplefreaks einen faszinierenden Einblick in die Musik eines lebendigen Nordafrika jener Jahre ermöglicht. Uneingeschränkt empfohlen für einen Ausflug in Gefilde weit jenseits der rein elektronischen Musik, die unsereins nahezu täglich umgibt.


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 01/2014

Sonntag, 11. Oktober 2020

THERE'S MORE TO LIFE THAN...

...Winterwahn. Auch wenn die dunkle Jahreszeit absehbar nachhaltige Veränderungen mit sich bringt, glänzt das letzte frühlingshafte Aufbäumen des Jahres zum Entstehungszeitpunkt dieser Zeilen noch einmal durch einen abwechslungsreichen Strauß bunter Vinylblumen, die es mit dieser Kolumne näher zu bestimmen gilt.

Angefangen mit dem italienischen Duo Gianclaudio Hashem Moniri & Giuseppe Carlini a.k.a. Plaster, das sich mit der Originalversion ihres Tracks „Circular Mechanism“ auf dem schwedischen Label SonouS dem Thema Ambient von seiner deepen, verdubbt elektronischen Seite her nähert und einen wahren Trip zwischen Deadbeat'scher Unterkühlung und der trippig hypnotischen Wirkung zu Unrecht unterschätzter Klassiker aus der Feder von Nommo Ogo oder Carlito Verde abliefert. Auf der Flipside findet sich ein Remix von Substance, der sich voll und ganz dem maximalstverzögerten SciFi-Dub widmet und sich dank seines schleppenden Ungrooves auch im Illbient-Kontext als wirksamer Lieferant innerer Unruhe und psychischer Unrast anbietet.

Das Gegenteil dieser Unrast findet sich mit Race To Space's „Baikal“ auf der dritten Vinylausgabe des russischen Imprints Ketama Records. Zwar findet sich auch hier ein Hang zur ambientösen Trippigkeit, diese jedoch fusioniert mit lieblichem Frauengesang und einem Downbeat (Not Downbeat)-Gefühl zu einer durchaus hörangenehmen Angelegenheit, die veredelt durch Remixer wie Benji Vaughan, Tripswitch und Electrosoul System nie die musikalische Komfortzone verlässt, selbst wenn es - wie im letztgenannten Remixfall – auch um Dancefloor-affine Beats mit abstrahierte NuSkoolBreaks-Ausrichtung geht. Sehr schön.

Ebenfalls schön und auf sehr erstaunliche Weise trotz ca. 50%iger Überschneidung zum Originalwerk wesentlich tiefgehender und kohärenter präsentiert sich die jüngst in limitierter Version auf schneeweissem Vinyl erschienene Instrumentalversion des zu Recht hoch gelobten „Lost“-Albums aus der Feder des dänischen Produzenten Anders Trentemøller, das in dieser Form noch eine weitere. neue Perspektive auf seine musikalischen Fähigkeiten eröffnet. Ein perfekter Soundtrack für geisterhaft vernebelte Frühwintertage.

Ebenfalls in coloriertem Vinyl gepresst ist die Laufnummer 022 des inselbritischen Drum'n'Bass-Labels Sinuous Records, das mit dieser die beiden Tracks „Excavator“ und „Complexity“ aus dem Studio des Produzenten Minor Rain direkt auf die Tanzflächen katapultiert. Extrem aufgeräumtes Sounddesign trifft im erstgenannten Tune auf messerscharfe Beats im Sinne des „long black tunnel“ der Endneunziger Virus-Schule, die ihre Faszination nicht nur aus der absolut technischen Versiertheit der Produktion, sondern auch aus ihren unterkühlten, sci-fi-verliebten und komplex verstolperten Percussion-Motiven schöpft, die sich mit tödlicher Präzision um die Hauptelemente Bassdrum und Snare winden. Auf der Flipside übernimmt dem Namen entsprechend eben genau jene Komplexität in Form minimalistischer, sich nahezu ineinander verschlingenden Beats die tragende Rolle und überführt das Erbe früher Photek-, Hidden Agenda- und Source Direct-Produktionen in minimalistischer Form in die Jetztzeit. Call it Complex Jungle?


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 12/2013

Donnerstag, 1. Oktober 2020

THERE'S MORE TO LIFE THAN...

…Monochromatismus. Wer den Verfasser dieser Kolumne kennt, wird ihn aufgrund seiner selten gebrochenen Vorliebe für vorwiegend schwarze bis maximal dunkelgraue Kleidung umgehend Lügen strafen. Doch weil dieser Tage ein Herbst Einzug hält in die Strassen dieses Landes und den Blätterwald der Alleen in ein Potpourri der Farben verwandelt geht es auch in dieser Kolumne zumindest stilistisch ein wenig bunter zu.

Angefangen mit der jüngst auf Poker Flat Recordings erschienenen „Lectures E.P.“ des jungen Niederländers Wouter De Moor, dem es nicht nur gelingt das erste Interview-Acapella überhaupt auf einer 12“ des Labels unterzubringen, sondern der auch die Worte des interviewten Theo Parrish in nahezu perfekter Wildpitch-Emulation im titelgebenden Track umsetzt. Geremixt wird dieser auf der Flipside von Kirk Degiorgio während Wouter De Moor auf A2 mit seinem ebenfalls grossartigen Oldskool-Cut „8 Voices“ noch einmal ein fettes Original mit rohen Claps und scharfen Hi-Hats nachlegt. So geht House.

Komplett gitarrenlastig geht es weiter mit der achten Veröffentlichung der Major Label-Schwester SuperKamiokandeDetektor, auf der mit „Jetzt Ist Es Kaputt“ eine überaus bezaubernde EP der Formation Goldner Anker erscheint. Wie gewohnt verortet zwischen unpoppigem Melodiengebrauch, rauher IndiePunk-Credibility und fragil rauchiger Frauenstimme liefern Goldner Anker hier drei kleine, aber feine Hits im Original – allen voran das antikonsumistische „Ticket“ - und lassen darüber hinaus den auf ihrem 2012 Debutalbum erschienen Song „Only You“ von Jkube durch den PostJungle vs. Dubstep-affinen Remixwolf drehen ohne das dabei das Original der vollkommenen Fragmentierung anheimfällt. Mission erfüllt.

Anderweitig organisch präsentiert sich die vierköpfige Dark resp. Future Jazz-Formation Falling, die mit dem aufwendig gestalteten „Original Motion Picture Soundtrack“ dieser Tage ihr auf 100 Exemplare limitiertes Debutalbum auf dem in Mettmann beheimateten Label Shhhh Records vorlegt. Im weitesten Sinne verortet zwischen Bugge Wesseltoft's New Conceptions Of Jazz-Ästhetik und den Future Jazz-Variationen des klassischen, ehemals in Wien beheimateten Showroom Recordings-Projektes emulieren Turgut Kocer, Helge Neuhaus, Gabriel Masterson und Frederik Groborsch hier einen waschechten Improv-Ansatz, ohne sich je zusammen in dieser Konstellation an einem realen Ort befunden zu haben. Die Welt des schnellen Datenverkehrs macht es möglich und schenkt uns mit „Original Motion Picture Soundtrack“ einen entschleunigten Score für vernebelte Herbstabende mit ernsthaften Drinks. Im Falle des Verfasser dürfte die Wahl des letztgenannten hier zweifelsohne auf einen Maple Old Fashioned fallen.

Zurück auf dem Dancefloor befinden wir uns final mit der „Guy Martin EP“ des Max.Ernst-Gründers und Studio-Veteranen Thomas Brinkmann a.k.a. Brinkmann in allerbester Gesellschaft. Verortet zwischen tiefenhypnotischem ClubTechno mit spannungsgeladener Crimescene-Atmosphäre und jazzigen Ambitionen, Metal'esquen Schrammelbässen auf Viererfußbasis und an FutureJazz orientierten Downtempo-Exkursionen liefert das Third Ear-Label mit dieser 12“ nicht nur drei qualitativ hochwertige Tracks sondern denkt mit dieser Zusammenstellung auch über gewohnte Genre- und Schubladengrenzen hinaus und macht damit deutlich, daß es letztendlich doch nur um eines geht: die Musik.


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 11/2013