Mittwoch, 2. September 2020

THERE'S MORE TO LIFE THAN...

…Techno. Denn nach mehr als zwanzig Jahren der elektronischen Tanzmusik auf der Basis des allgegenwärtigen Viererfuß ist es zumindest in diesem Monat einmal an der Zeit, sich im Rahmen dieser Kolumne ausschliesslich und exklusiv der experimentellen Seite der nicht immer nur elektronischen Musik zu widmen.

Angefangen an dieser Stelle mit den Electronica-affinen Dubexkursionen eines Herrn namens Matthias Springer, der unter dem nicht ganz flüssig zu sprechenden Alias Aksutique dieser Tage seine „Notch Field E.P.“ auf Diametric vorlegt. Limitiert auf 300 handnummerierte 12“es vereint er unter diesem Namen drei Tracks gelagert zwischen dem Pole-Gefühl der ersten drei Alben, der stoischen, ambientösen Ruhe früher Senking-Veröffentlichungen, weichgezeichneten Hallfahnen und einer raumgreifenden, dreidimensionalen Tiefe, die das Verstreichen von Zeit anhand sich nur minimal verschiebender Klangsignaturen förmlich greifbar macht, ähnlich wie hochauflösende Deep Space Field-Photographie ein Gefühl für den immerwährenden Schaffensprozess innerhalb unseres Kosmos vermittelt. Durchaus wichtig und eine echte Bereicherung für jede gepflegte Vinylsammlung, nicht nur wegen des auf B2 versteckten Arne Weinberg Remix unter seinem Tarnnamen Valanx.

Ebenfalls deep und experimentell geht es auf dem in Griechenland beheimateten Label Inner Ear Records zu, welches sich dieser Tage mit Mechanimal's selbstbetitelten Debutalbum dem elektrosynthetischen Shoegaze widmet und sowohl campfire'esque Intimität als auch Suicide-angelehnte Distorsionsequenzen mit von tiefer Melancholie geprägtem Sprechgesang kombiniert. Auf diese Weise entsteht eine Klangwelt, die von staubigen Autobahnen in heruntergerockten Industriegebieten kündet, von harter Arbeit und den damit verbundenen Erfahrungen, vom Blues der Straße und von ölverschmierten Overalls. In dieser Gesamtheit sehr zu empfehlen zumal auch Depeche Mode mit ihrem jüngsten Album „Delta Machine“ eine nicht weit entfernte Ästethetik bedienen.

Gesang der ganz anderen Art liefert die noch junge, aber doch sehr talentierte Lisa Morgenstern, die nicht nur wirklich so heisst, sondern sich auch als eine der wenigen ihrer Generation an so selten gehörte Genres wie Theatrical Chanson und Dark Sonnet wagt und damit nicht nur auf der Bühne schwer zu beeindrucken weiss. Im Rahmen des WGT erschienen jüngst drei ihrer Werke als Beigabe zu Thomas Manegolds' limitierter Buch-EP „Vorgespräche Mit Goth“ in der Edition Subkultur. Mit ihren tiefgehenden, weitgehend Piano-getragenen Interpretationen ihrer Songs „Kannibalische Gourmet“, „Eskalation“ und „Lieber Tod“ zaubert Frau Morgenstern grosse Bilder auf die leere Leinwand des Kopfkinos und schafft dabei weit mehr Dramatik und Emotion als manch zu Unrecht geförderter Dramatik-Neuzugang der deutschen Theaterlandschaft. Diesen Gedanken konsequent zu Ende gedacht ersetzt das melancholisch-bittere „Lieber Tod“ mit seinen 329 Sekunden Laufzeit komplette Operetten und Musicals in Gänze und ist damit wohl die intensivste Veröffentlichung des laufenden Jahres. Wichtig.


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 08/2013

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