Sonntag, 1. November 2020

THERE'S MORE TO LIFE THAN...

...Weihnachten. Während der Normalbürger sich zwischen Konsumrausch und Strassenkrieg zum Jahresende den kleinen und grossen Dramen im Kreise der Familie und / oder der Lieben widmet und der halbwegs musikinteressierte Mensch sich wieder – und zu Recht – über die Ergebnisse ungezählter Jahrespolls echauffiert, nutzt der Schreiber dieser Zeilen die angeblich besinnliche Zeit, um noch einmal ein paar zu Unrecht unterbewertete oder einfach übersehene Scheiben des letzten Jahres Revue passieren zu lassen. Es folgt: kein Jahresrückblick.

Beginnen wir mit der schon im Juli auf dem inselbritischen Label Peng Sound erschienenen „Gorgon Sound E.P.“ des gleichnamigen Projektes, die dank kompliziert verschachtelter Importumwege über Frankreich erst jüngst den Weg in hiesige Plattenläden fand. In schwerem Karton-Gatefoldcover auf 180 Gramm-Vinyl bedient diese E.P. die Freunde des haptischen Musikerlebnisses schon im Vorfeld des ersten Tons und entpuppt sich mit ihren vier Tracks als wahres Brett in Sachen klassischer Dub / DubHouse-Kultur. Mächtige, raumgreifende Analogbässe bilden das Gerüst für fordernde 4/4 Beats sowie Dub-typische Offbeat-Chords und Rimshots, zu denen auf zwei Tunes Junior Dread und Guy Calhoun verhallende Vocals beisteuern. Ansonsten regiert die Tiefe des Hallraums über die Reduktion auf absolut essentielle Elemente und genau darin besteht die grosse Kunst der originären Dubkultur, was diese 2x12“ zur absolut unausweichlichen Anschaffung macht.

Weiter geht es mit „Y“, dem zweiten und wieder in kompletter Eigenregie veröffentlichten Doppelalbum des deutschen Duos [aniYo kore], welches auch mit seinem neuen Werk der Errettung und Wiederbelebung des vocallastigen TripHop / Downtempo-Genres einen weiteren, riesigen Schritt näher kommt. Musikalisch der dunklen, gern auch am Schmerz des Lebens tief leidenden Moll-Tonlage auf skelettiertem Beatgerüst zugetan, öffnet sich das Soundspektrum der Band auf diesem Album weg vom Illbient-Ansatz hin zum, teils intim folkigen, Gitarren- und Basseinsatz und inkludiert partiell sogar Raps, ohne sich jedoch weit vom bekannten Grundton des charakteristischen [aniYo kore]-Sound zu entfernen. Nicht ausschliesslich, aber auch, empfohlen für Freunde von Portishead, Nicolette & Co. und in einer Auflage von 300 Exemplaren nur direkt über die Band zu beziehen.

Doch auch in puncto Wiederveröffentlichungen und Neuauflagen hielt das vergangene Jahr mehr qualitativ hochwertige Tonträger bereit als schriftlich in der ihnen gebührenden Länge diskutiert werden konnten. Beispielhaft für diesen durchaus begrüssenswerten Trend sei an dieser Stelle das via Mute / The Grey Area im November wieder zugänglich gemachte Cabaret Voltaire-Album „Micro-Phonies“ genannt, welches – noch einmal neu gemastert – nicht nur die nach wie vor zwingende Aktualität der bereits in 1984 veröffentlichten LP auf der Schnittstelle zwischen PostPunk-Elementen, Industrial-Resten, NuBeat und modernem Electro / ProtoTechno noch einmal neu vor die Augen einer damals noch ungeborenen Generation führt, sondern auch aus dem Fokus geratene Underground-Hits wie „Digital Rasta“, „Blue Heat“, „Spies In The Wires“ und das zu jener Zeit sogar gechartete „Sensoria“ hoffentlich wieder zurück auf die Tanzflächen der Welt bringt. Must have, weil geschichtsträchtig.


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 02/2014

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