Samstag, 23. Mai 2020

THERE’s MORE TO LIFE THAN...

...Standardformate - gerade weil es in unserer elektronischen Welt immer sehr geordnet zwischen 12“ und in Ausnahmefällen 7“ zugeht und selbst dem von mir geliebten 10“ Format noch fast etwas Exotisches anhaftet. Doch es geht auch anders.

Nachdem Sascha Müller den Formatfaschismus in diesem Jahr schon mit dem Revival von DIY-Tapeauflagen und – wir erinnern uns – in Hardcases verschraubten DVDrs aufs heftigste bekämpft hat, geht er mit seiner neuen „Booty Flop“-Serie noch einen Schritt weiter und holt mit 3.5“-Disketten ein weiteres Medium aus dem Keller, dessen Tod schon in den Neunzigern als vollends besiegelt galt und darüber hinaus nie als Medium zur Veröffentlichung von Musik geeignet war. Enthalten ist pro Veröffentlichung ein Track im 48 oder 64 kpbs aufgelösten mp3-Format, limitiert auf 10 Kopien pro Laufnummer. Erwähnenswert hier vor allem die Folge 1 der Serie mit einem obskuren MashUp von Michael Jacksons „Billie Jean“, das klingt als wäre es durch einen Telefonhörer an einer analogen Kupferleitung aufgenommen. Völliger Irrsinn in Hyper-LoFi.

Dagegen ist die ebenfalls aus der Müller’schen Feder stammende zweite Veröffentlichung auf dem Label Psychocandies schon fast gewöhnlich, steckt hier doch eine auf 100 Stück limitierte 7“ mit hypnotischem AnalogAcid statt in einem normalen Cover in einer semi-antiken 8“ Diskettenhülle. Sieht nicht nur gut aus, klingt auch so.

Viel weiter und über den Rand des verpackungstechnischen Wahnsinns hinaus geht in diesem Monat nur Turgut Kocer mit seinem Materiau-Label und der Veröffentlichung des fünfteiligen Gesamtwerkes „Eminenzen Gold“, das limitiert auf insgesamt nur 3 Downloads und 7 Doppel-CDrs erscheint. Letztere verpackt in einer verklebten 12“ Plastikhülle mit einem zusätzlich verpackten, mehrseitigen Manifest mit einem teilverbrannten Photo, Rollsplit, Kohlestückchen, Knäckebrotkrümeln und einer als Samplequelle dienenden alten Schellackplatte als zusätzliche Dreingabe. Ein großes FUCK YOU erstmal als Dank für die widerlich schwarz eingestaubten Finger beim Öffnen des Paketes und kein weiterer Kommentar zur Musik, da mein Laufwerk sich konsequent weigert mehr als ein paar Sekunden der CDrs abzuspielen, bevor verdächtige Brumm- und Knarzgeräusche aus seinem Inneren mich zum panikartigen Abschalten des Gerätes zwingen, um einen Totalschaden zu vermeiden. Die Vermutung liegt nahe, das die aufgebrachten Sticker eine Rotationsunwucht verursachen, deren Folgen zumindest für mein Laufwerk fatal sein könnten. Das ist nicht witzig.

Eine Verschiebung und Verzerrung des Zeit- und Realitätsformates hingegen betreibt Arthur Boto Conley’s Music Workshop mit der Veröffentlichung von drei großartigen Stücken des ominösen Musikers Clifford Trunk auf dem Label Travel By Goods, dessen vierte und vorliegende Veröffentlichung auf 333 Exemplare schneeweißer 12“es limitiert ist. Laut beiliegender Geschichtsverortung sind alle drei Titel einem unveröffentlichten Demotape ebenjenes in Deutschland geborenen Amerikaners entnommen, übergeben an Mr. Conley nach einer zufälligen Unterhaltung im Ratinger Hof der späten 80er. Mythenbildung? Oder gar doch ein futuristisches Genie? Der Techno- / House-Ansatz jener Stücke ist zumindest erstaunlich smooth, wunderschön arrangiert und im Falle des „551 (Dub)“ sehr nahe an SpeedGarage ohne cheesy Samples, während „418“ (Neo)Trance und „940“ säurehaltigen und extrem zurückgenommen ArmchairTechno Warp’scher Prägung in Reinkultur vorwegnehmen. Groß.

Eine weitere Verschiebung, diesmal der Hörgewohnheiten, steht den Fans des InFine-Labels mit dem Signing des Bassmusik-Duos Downliners Sekt bevor, die mit ihrer Single „Trim / Tab“ nicht nur ihr für 2013 geplantes Album ankündigen sondern dem Label Tür und Tor ins sogenannte „’ardcore continuum“ öffnen, beackern sie hier doch das Feld zwischen melancholischem Future Garage und verrauschtem, auf dem Prinzip des Antigroove aufgebautem Digital R’n’B, wobei natürlich auch der PostRave-Ansatz früher Burial-Werke nicht zu kurz kommt. Deep shit.

Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 10/2012

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